0.Verfolgung und Vetreibung im Mittelalter
Der Kirchenlehrer Augustinus (354-430) beeinflusste die Beziehung zwischen Judentum und Christentum, welche bis dahin sehr antagonistisch geprägt war und bereits zu zahlreichen Auseinandersetzungen geführt hatte. Das Christentum sah sich als die einzig wahre Religion an und betrachtete es als ihre Aufgabe, Andersgläubige zu missionieren. Augustinus formulierte eine These, laut welcher die Juden das Gesetz Gottes in die Welt trugen, auch wenn sie es selbst nicht verstanden, und dass sie somit Knechte des Christentums seien. Daher sollte man sie schützen, nicht verfolgen, denn sie erfüllten ihre eigene Rolle im Plan Gottes und hatten somit Daseinsberechtigung. Vor allem die Idee des Judentums als Knecht des Christentums blieb im Mittelalter lebendig und fand seinen Weg in zahlreiche Formulierungen in Judenprivilegien. Sie beeinflusste auch die Entstehung der Idee des Hofjuden bzw. Juden als Kammerknechte, wie sie im Mittelalter und auch noch in der Neuzeit genannt wurden, wenn sie unter dem direkten Schutz eines Souverän standen.
Die Position, dass Juden zwar einem Irrglauben angehörten, aber als Angehörige einer Religion mit ähnlichen Grundlagen geduldet werden konnten, behielt die katholische Kirche zu einem großen Teil während der Spätantike und dem Frühmittelalter bei, bis im Hochmittelalter eine neue Radikalisierung stattfand.
Doch selbst wenn die Kirche ein friedliches Nebeneinander postulierte, kam es das gesamte Mittelalter hindurch immer wieder zu Pogromen. Diese waren meist lokale Phänomene, die durch spezifische Ereignisse ausgelöst wurden und nur innerhalb einer oder einiger wenigen benachbarten Gemeinden stattfanden. Regional übergreifende, flächendeckende Verfolgungen waren selten, wurden generell von einem Großereignis wie einem Kreuzzug oder einer Epidemie ausgelöst und fanden oft gegen den Willen des Landesherren, des Kaisers und des Papstes statt.
0.1.Der erste und zweite Kreuzzug
Anfang des 11. Jahrhunderts gab es eine Vielzahl von Pogromen in ganz Europa, ausgelöst durch die Zerstörung des Heiligen Grabes in Jerusalem. Es gab Gerüchte, laut denen Juden die Zerstörung beauftragt und bezahlt hätten. Im Rheingebiet ist nur in Mainz ein Pogrom innerhalb dieses Zeitraums belegt.
Der erste Kreuzzug, im Jahr 1096 beginnend, verursachte eine große Verfolgungswelle, vor allem in Mitteleuropa. Zu diesem Zeitpunkt waren im Rheinland nur in den Bischofssitzen und in einigen alten Handelsstädten Judengemeinden vorhanden, die meisten von ihnen waren von den Pogromen betroffen. Auslöser der Verfolgungen waren die Teilnehmer des Kreuzzugs, welche von zahlreichen Predigern begleitet wurden. Einige von diesen, so zum Beispiel Pater von Amiens, verkündeten, dass man bereits auf dem Weg ins Heilige Land Heiden bekämpfen und vertreiben sollte. Sie hetzten beim Zug durchs Land auch die dort lebende Bevölkerung auf, sodass sich große Menschenmengen bildeten, die in die Städte eindrangen. Sie verfolgten die jüdische Bevölkerung, plünderten ihre Häuser, zwangen sie zur Taufe oder töteten sie.
Kaiser Heinrich der IV., der Schutzherr der Juden, war in Italien in einen Krieg mit den Papst verwickelt und konnte nicht rechtzeitig eingreifen. Selbst die Bischöfe, die den Juden Schutz gewährten und sie in ihre Burgen einließen, konnten die Gewaltausschreitungen nicht verhindern und wurden zum Teil selbst bedroht, wenn sie sich weigerten, die Juden auszuliefern. In einigen Städten flohen die Bischöfe und überließen die Juden ihren Verfolgern. In vielen Städten kam es zu Massenselbstmord unter den Juden, um der Zwangstaufe zu entgehen, so etwa in Trier. Die Bischöfe erlaubten den Überlebenden, die getauft worden waren, die Rückkehr zum Judentum. Viele Gemeinden waren gänzlich zerstört worden und mussten neu aufgebaut werden.
Ähnlich verliefen auch die Pogrome während des zweiten Kreuzzuges im Jahr 1146/7. Wieder waren es Prediger, die sowohl die Land- wie auch die Stadtbevölkerung aufhetzten und auch die Kreuzritter ermutigten, gegen die Juden vorzugehen. Die jüdischen Gemeinden hatten sich kaum von den letzten Pogromen erholt, ihre Zahl wurde wieder stark dezimiert, ihr Besitz geplündert und zerstört, auch wenn das Ausmaß der Verfolgungen nicht die des ersten Kreuzzuges erreichten. Zwar wurden die Pogrome von Kaiser und Bischöfen verurteilt, jedoch hatte sich wieder gezeigt, dass sie als Schutzherren nicht fähig waren, die jüdische Bevölkerung vor solchen Ausschreitungen zu schützen.
0.2.Ritualmordlegende
Während im 11. und 12. Jahrhundert flächendeckende Pogrome nur durch die Kreuzzüge stattfanden, stieg während des 13. Jahrhunderts die Zahl der Gewaltausschreitungen und Morde an Juden an. Dabei waren vorerst religiöse Motive vorherrschend. Die bereits in der Antike vorkommenden Vorwürfe des Ritualmordes erlebten im Hoch- und Spätmittelalter einen großen Aufschwung, hinzu kamen Beschuldigungen des Hostienfrevels.
In England wurde im Jahr 1144 in Norwich der Fall eines ermordeten Kindes bekannt, das angeblich von Juden getötet worden war, die sein Blut in diabolischen Ritualen verwenden wollten. Über Frankreich erreichte die Ritualmordlegende im 13. Jahrhundert das deutsche Reich, wo der erste Fall 1235 in Fulda bekannt wurde. In der Ritualmordlegende wurde behauptet, Juden bräuchten Christenblut für ihre eigenen Rituale, und würden dafür vor allem Kinder und Jugendliche töten. Auch würden sie zur Osterzeit ein Opfer brauchen, um den Mord an Christus zu wiederholen. Dies führte dazu, dass ungeklärte Morde und auch das Verschwinden von Personen, vor allem Kindern, schnell den Juden angekreidet wurde. Dabei wurden nicht einzelne Juden, sondern meist die gesamte Gemeinde beschuldigt und verfolgt.
Flächendeckende Pogrome löste im Rheinland der Fall des Werner von Bacharach aus. Am Gründonnerstag des Jahres 1287 wurde die Leiche eines jungen Mannes im Fluss bei Bacharach gefunden. Er war ein Tagelöhner gewesen, der in der Stadt nach Arbeit gesucht hatte und zeitweilig auch bei einer jüdischen Familie angestellt gewesen war. Der Tod wurde den Juden zur Last gelegt, die darauf folgende Vertreibung und Ermordung der ansässigen Juden löste zahlreiche Pogrome im Rheinland und entlang der Mosel aus. Um Werner von Bacharach entstand ein Kult, er wurde als Volksheiliger verehrt und eine Kapelle für ihn gebaut. Von der Kirche wurde Werner jedoch nie als Heiliger oder Märtyrer anerkannt.
Die Ritualmordlegende blieb das gesamte Mittelalter über lebendig. Auch in der Neuzeit und selbst im 19. Jahrhundert gab es noch Fälle, in denen Juden des Ritualmordes beschuldigt wurden. Diese Legende griffen auch die Nationalsozialisten in ihrer antisemitischen Propaganda auf. Dabei verurteilten sowohl mehrere Kaiser als auch Päpste die Legende und die mit ihr einhergehenden Übergriffe und Verfolgungen, oft wurden die Initiatoren der Pogrome selbst anschließend von der Obrigkeit verfolgt und bestraft.
0.3.Der Vorwurf des Hostienfrevels
Gleiches gilt für die Legende des Hostienfrevels. Im Jahr 1215 erklärte der Laterankonzil die Transsubstantation zum Dogma, d.h. die Hostie wurde während der Messe tatsächlich zum Leib Christi, der Wein zum Blut Christi. Damit wurde der Fronleichnam als kirchlicher Feiertag eingeführt und eine neue Frömmigkeit durch Hostienanbetung und Prozessionen gefördert. Der Vorwurf des Hostienfrevels besagt, dass Juden Hostien stehlen und dann mit Nadeln durchstechen würden, um den Mord an Christus zu wiederholen. Ab Mitte des 13. Jahrhunderts kam es zu vielen Vorfällen, in denen solche Anschuldigungen zur Verfolgung und Vertreibung von Juden führten, wobei es jedoch selten zu überregionalen Verfolgungen kam. Erst mit der Reformation und den Veränderungen im Eucharistieglauben nahmen die Vorwürfe des Hostienfrevels ab.
Ein Fall, in dem der Vorwurf des Hostienfrevels zu landesübergreifenden Pogromen führte, war die Rintfleisch-Bewegung des Jahres 1298, die zugleich als Beginn der sogenannten "„50 Jahre des Schreckens in Aschkenas"“ kennzeichnete. In dieser Zeit des Interregnums war die Präsenz des Königtums sehr schwach und konnte seinen Pflichten als Schutzmacht der Juden nicht nachkommen. Rintfleisch war ein verarmter Adeliger, welcher sich an die Spitze eines Mobs stellte, der vor allem aus armer Landbevölkerung und städtischen Unterschichten bestand. Rintfleisch bezeichnete sich selbst als König und initiierte von Röttingen aus zahlreiche Pogrome in Franken und im Rheinland. Die Bewegung blieb über mehrere Monate hinweg aktiv und fand viel Zulauf, bis es König Albrecht I. gelang, weitere Verfolgungen unter Strafandrohung zu unterbinden.
Nach ähnlichem Muster lief die Bewegung um „König Armleder“ im Jahr 1336 ab, an deren Spitze der verarmte Ritter Arnold von Uissigheim stand, welcher in grob demselben Gebiet in Franken und im Rheinland seinen Einfluss verbreitete wie zuvor Rintfleisch. Nach der Hinrichtung König Armleders Ende 1336 wurde er als Märtyrer gefeiert und die Bewegung ohne ihn fortgeführt. Ein zweiter König Armleder, eigentlich der Schankwirt Johann Zimberlin, organisierte zusammen mit dem Burggrafen von Dorlisheim weitere Pogrome im Elsass und Umgebung. Wieder bestand die Mehrheit der Bewegung aus Bauern und städtischen Unterschichten, sie blieben insgesamt knapp zwei Jahre aktiv. In dieser Zeit wurden zahlreiche Juden getötet und viele Gemeinden gänzlich zerstört.
Hier war nicht nur die Religion, sondern auch wirtschaftliche Motive ausschlaggebend für die Übergriffe. Bei den sogenannten Judenschlägern handelte es sich vor allem um arme Vertreter der Unterschichten wie Bettler und Tagelöhner. Der wirtschaftliche Wohlstand und Reichtum der jüdischen Bevölkerung führte zu Neid und Missgunst, die in Gewalt umschlugen, sobald ein Vorwand gefunden war. Im Verlauf des 13. Jahrhunderts wurde die Situation zusätzlich durch die Verbreitung der Bettelorden verschärft, die als eines ihrer Ziele die Bekehrung der Juden wünschten. Zwangsmission und Zwangstaufe wurden dafür eingesetzt, wer sich verweigerte, sollte vertrieben werden. Hinzu kam die Betonung der Passion Christi in der Volksfrömmigkeit, welche die Leiden Jesu in den Vordergrund stellte und somit auch die Juden als Gottesmörder wieder ins Gedächtnis der Christen rief.
0.4.Die Pestpogrome
Höhepunkt der „Schreckensjahre“ waren die Pestpogrome der Jahre 1348/49. Das 14. Jahrhundert war eine Krisenzeit, Klimawandel, Missernten und Hungersnöte führten zu steigendem Preisen und somit auch zu steigender Armuts bei der Bevölkerung. Zu diesem Zeitpunkt waren zahlreiche Juden im Geldleihgeschäft tätig, und die Unmut über die wachsenden Schulden verstärkte die Aggressionen. Mit dem Ausbruch der Pest in Europa eskalierte die Situation und es kam zu europaweiten Pogromen, wobei religiöse Motive nur noch marginal von Bedeutung waren. Stattdessen waren es wirtschaftliche und soziale Gründe, die zu den Verfolgungen und Morden führten, vor allem der Reichtum der Juden wurde mit Missgunst gesehen. Aber auch die Tendenz der jüdischen Gemeinden, sich nach außen hin abzuschotten, weckte Misstrauen und lieferte guten Nährboden für zahlreiche Gerüchte über Rituale, Teufelsverehrung und Verschwörungen.
Nachdem im Jahr 1348 die Pest in Mitteleuropa ausgebrochen war und das Massensterben einsetzte, kam es zu zahlreichen Pogromen in ganz Europa. Anders als die Rintfleisch- und Armleder-Bewegung handelte es sich nicht um eine koordinierte Bewegung, sondern um viele einzelne lokale Erhebungen. Die Pogrome dauerten insgesamt bis zu zwei Jahre an. Als Begründung für die Verfolgung der Juden wurde der Vorwurf der Brunnenvergiftung erhoben. Man beschuldigte die Juden, die Brunnen zu vergiften und so die Pest auszulösen, um die christliche Bevölkerung zu töten. Interessanterweise fand die Mehrheit der Pogrome noch vor dem Ausbruch der Pest im jeweiligen Gebiet statt, so dass selbst zeitgenössische Chronisten die Brunnenvergiftung nur als Vorwand sahen, damit die Juden vertrieben und ihr Besitz konfisziert werden konnte.
Die Pogrome nahmen je nach Ort einen unterschiedlichen Verlauf. In manchen Fällen formte sich nach einer aggressiven Predigt ein spontaner, unkontrollierter Mob, der die Judenviertel plünderte und brandschantzte. In einigen Fällen wie Straßburg wurde die Vertreibung jedoch vom Stadtrat organisiert. Dabei waren hauptsächlich wirtschaftliche Gründe ausschlaggebend für den Pogrom, da der Stadtrat Profit aus der Verfolgung zu schlagen hoffte.
Schließlich führten die Pogrome wieder zu einer starken Dezimierung der jüdischen Bevölkerung und zur Zerstörung vieler Gemeinden. Zwar kehrten die Juden bald wieder in die Städte zurück, doch waren die Pestpogrome trotzdem eine einschneidende Zäsur, nicht nur wegen dem Ausmaß der Zerstörung, sondern auch da mit der Rückkehr der Juden eine stetige Verschlechterung ihres rechtlichen Status begann, der vor allem daran zu erkennen ist, dass in vielen Gebieten den Juden nur noch zeitlich befristet Aufenthaltserlaubnis gewährt wurde.
0.5.Ghettos und Aufenthaltsverbote
Im Jahr 1390 ordnete Pfalzgraf Ruprecht II. die Vertreibung aller Juden aus seinem Territorium an, viele benachbarten Landesherren ergriffen die gleichen Maßnahmen, wobei es Hinweise darauf gibt, dass trotz des Siedlungsverbots einige jüdische Familien weiterhin in der pfälzischen Gebieten lebten.
Im 15. Jahrhundert kehrten die Anschuldigungen von Ritualmord und Hostienfrevel mit dem Wiedererstarken des christlichen Fundamentalismus zurück. Die Kirche ordnet die Ausgrenzung von Juden an, sie sollen durch gelbe Ringe auf ihrer Kleidung gekennzeichnet werden, Christen sollen nicht mehr für Juden arbeiten, nicht mit ihnen in einem Haus wohnen und möglichst wenig mit ihnen interagieren. In diese Zeit fällt auch der Beginn des Ghettobaus. Juden lebten zuvor aus eigenem Willen und Präferenz nah beieinander. Diese Judenviertel wurden nun durch Tore und Mauern abgeschottet, so etwa in Frankfurt am Main und in Worms. Jedoch wurden Ghettos nicht überall eingerichtet, und manche Stadtherren wie der Mainzer Erzbischof weigerten sich lange Zeit, die von der Kirche angeordneten Maßnahmen umzusetzen. Sie ließen sich stattdessen von den Juden dafür bezahlen, dass sie unbehelligt blieben.
Wenn man sich das Ausmaß der Verfolgung und die Zahl der Pogrome während des Mittelalters ansieht, ist man schnell versucht, die Geschichte der Juden als eine lange Kette von Verfolgungen zu sehen. Es ist jedoch zu beachten, dass zwischen den einzelnen Pogromen jahrzehnte- manchmal sogar jahrhundertelang ein friedliches Zusammenleben von Juden und Christen möglich war. Auch war bei den Pogromen nie die gesamte Bevölkerung beteiligt, es finden sich viele Berichte, in denen christliche Bürger ihren jüdischen Nachbarn halfen, indem sie sie versteckten oder ihnen zur Flucht verhalfen, wenn sie bedroht wurden.
Trotzdem war die Stellung der Juden in Aschkenas stets eine prekäre gewesen. Als soziale und religiöse Minderheit hatten sie nicht die Möglichkeit, sich selbst effektiv vor Verfolgungen zu schützen. Sie wurden oft als Fremde angesehen, und ihre Tendenz, sich selbst abzugrenzen und unter sich zu bleiben, förderte die zahlreichen Legenden und Gerüchte, die über die Juden kursierten. Motive für Gewaltausschreitungen konnten variieren, religiöse, finanzielle, wirtschaftliche und soziale Gründe spielten im Laufe der Zeit alle eine Rolle.
0.6.Literatur
- Haverkamp, Alfred: Die Judenverfolgungen zur Zeit des Schwarzen Todes im Gesellschaftsgefüge deutscher Städte. In: Zur Geschichte der Juden im Deutschland des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hrsg. Von Alfred Haverkamp. Stuttgart 1981.
- Herzig, Arno: Jüdische Geschichte in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1997.
- Jung, Martin: Christen und Juden. Die Geschichte ihrer Beziehung. Darmstadt 2008.
- Ziwes, Franz-Josef: Studien zur Geschichte der Juden im mittleren Rheingebiet während des hohen und späten Mittelalters. Hannover 1995.
Red. Bearb. Juliane Märker 22.03.2013